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Tunesien: Bargeldloses Zahlen (decashing) – Zwischen Traum und Realität

Das „Decashing“ ist eine grundlegende Notwendigkeit für Tunesien, das seit langem eine radikale Lösung gegen den Parallelhandel anstrebt. Um dem entgegenzuwirken, ist die Einführung eines Prozesses zur Reduzierung des Bargelds, auch „bargeldlos (cashless)“ genannt, nach wie vor unerlässlich. Andererseits, auch wenn Tunesien im Bereich Modernisierung, Informatik und Telekommunikation in Afrika an erster Stelle und weltweit an 43. Stelle von 200 Ländern steht, sind die Probleme, mit denen der Bürger täglich konfrontiert wird, wenn er online oder per POS (Online-Terminal zum bargeldlosen Bezahlen)  bezahlen will, zahlreich. Bugs und Netzwerkprobleme sind vielfältig, wenn das System bereits existiert! Noch komplizierter wird es, wenn es sich um Gebiete im Landesinneren handelt.

Marouane Abassi, Ex-Gouverneur der BCT, hatte im Jahr 2019 in einer Erklärung am Rande der Unternehmertage in Sousse angekündigt, dass das „Decashing“ im Juni 2019 beginnen soll. Dabei handelt es sich seiner Meinung nach um ein System, mit dem der Bargeldumlauf im Land eingeschränkt und der Schattenwirtschaft der Weg versperrt werden soll. Er teilte auch mit, dass die Bank seit 2017 mit der Arbeit an diesem Projekt begonnen habe. Es sei eine „Decashing“-Kommission eingesetzt worden, um eine Zahlungsplattform zu entwickeln. Aber warum verzögert sich dieses Projekt immer noch?

Wir brauchen konkrete und praktische Lösungen
Im Dezember letzten Jahres veröffentlichte das Arabische Institut der Unternehmensleiter eine Analyse von Anis Wahabi zum Thema „Lösungen für die Einführung des Decashing: eine Analyse der Ursachen für die Blockaden der Steuerreformen“.

In der Analyse heißt es, dass „seit der Ankündigung der Steuerreform im Jahr 2014 eine Reihe von gesetzlichen Maßnahmen ergriffen wurden, um die Steuerleistung zu verbessern und das Verfassungsprinzip der Gleichheit vor der Steuer zu verwirklichen“. Viele dieser Maßnahmen werden jedoch trotz der verschiedenen Ankündigungen der Regierungsvertreter, den Parallelmarkt und die Steuerhinterziehung durch „Decashing“ bekämpfen zu wollen, nur schwer umgesetzt. Diese Arbeit untersucht die Gründe, die hinter diesem Phänomen der Verzögerungstaktik bei der Regulierung stehen. Die Suche nach den Ursachen, den Wurzeln dieses Problems, ermöglicht es, konkrete und praktische Lösungen zu präsentieren, die bei der effektiven Umsetzung der lang erwarteten Maßnahmen helfen können.

Es wurden mehrere Empfehlungen angekündigt. Zunächst ist es auf der institutionellen Seite wichtig, einen Paradigmenwechsel vorzunehmen. „Tunesien braucht weder mehr Staat, noch weniger Staat, noch einen schwachen Staat. Es braucht einen strategischen Staat, einen agilen Staat, einen starken Staat und einen besseren Staat, und diese Konzeption muss von der Zufriedenheit des Nutzers, in diesem Fall des Bürgers, geleitet werden.

Ein Staat und eine Verwaltung, die dem Bürger als Kunden dienen, die in der Lage sind, die richtigen Spielregeln aufzustellen und dafür zu sorgen, dass diese Regeln auch angewendet werden. Ein Staat, in dem gute Regierungsführung an erster Stelle steht und dessen Aufgabe es ist, dafür zu sorgen, dass alles, was getan werden muss, auf angemessene und effiziente Weise getan wird. Ein Staat, der schneller reagiert und den Bürgern und Unternehmen besser zuhört“, heißt es in der Studie.

Ein Staat und eine Verwaltung, die dem Bürger als Kunden dienen, die in der Lage sind, die richtigen Spielregeln aufzustellen und dafür zu sorgen, dass diese Regeln auch angewendet werden. Ein Staat, in dem gute Regierungsführung an erster Stelle steht und dessen Aufgabe es ist, dafür zu sorgen, dass alles, was getan werden muss, auf angemessene und effiziente Weise getan wird. Ein Staat, der schneller reagiert und den Bürgern und Unternehmen besser zuhört“, heißt es in der Studie.

Laut den Empfehlungen dieser Arbeit ist es auch notwendig, den digitalen Übergang als ein globales Vehikel zur Veränderung des Konzepts der Digitalisierung, das lange Zeit mit einem breiteren Konzept verwechselt wurde, zu überdenken. Es gab eine Zeit, in der Tunesien eine Vorreiterrolle im IT-Bereich in der arabischen Welt und in Afrika einnahm. Heute ist es notwendig, die Grenzen des derzeitigen Systems zu erkennen. IT-Projekte dürfen sich nicht auf die Digitalisierung von Dokumenten oder die Entwicklung von Plattformen, die von der Realität des kulturellen und rechtlichen Rahmens des Landes abgekoppelt sind, beschränken. Vielmehr stellt ein digitaler Übergangsprozess einen vollständigen Neuaufbau (Reingeneering) des Systems dar, das vom rechtlichen Rahmen bis hin zu den Verwaltungsverfahren reicht. Darüber hinaus erfordern strukturierende Projekte auf organisatorischer Ebene nicht nur eine politische Trägerschaft, sondern auch eine Projektträgerschaft.

Anreize für Investitionen in Informations- und Kommunikationstechnik (IKT) schaffen
In Tunesien hat das Projekt des „Decashing“ schon immer das Interesse der Wirtschafts- und Finanzwelt geweckt. Amine Ben Gamra, Wirtschaftsprüfer und Mitglied der tunesischen Wirtschaftsprüferkammer, erklärte in einem Gastbeitrag, dass das „Decashing“ eine interessante Alternative zur Bekämpfung der Schattenwirtschaft sei, die in Tunesien Schätzungen zufolge mehr als 50 % des BIP ausmacht, wodurch dem Staat Steuereinnahmen entgehen, die für seinen Haushalt unerlässlich sind, den er im Übrigen nur schwer ohne Auslandsverschuldung finanzieren kann.

„Die informelle Wirtschaft, die von Schmuggelnetzen angeheizt wird, blüht in den ärmsten Regionen leider immer noch… Junge Leute, die ein Unternehmen gründen wollen, um auf eigenen Füßen zu stehen, treffen oft auf gleichgültige und arrogante Beamte. Sie begeben sich dann auf einen Wettlauf mit Papieren, wobei sie mit komplexen und peniblen Vorschriften und widerspenstigen Banken konfrontiert werden, die zögern, ihnen Kredite zu gewähren. Und so kommt es, dass viele von ihnen in ihrer Verzweiflung aufgeben oder sich in den Dienst der Schmugglermafia stellen, die weiterhin riesige Barvermögen anhäuft. Aus diesem Grund ist es von entscheidender Bedeutung, die enorme Menge an Schwarzgeld zu bereinigen, die im Land zirkuliert und alle möglichen Arten von Schmuggel nährt. Dies ist eine der Voraussetzungen für die Wiederbelebung der Wirtschaft“, erklärte er.

Ben Gamra zufolge ist die Reduzierung des Bargeldumlaufs, die zur Bewältigung dieser Situation notwendig ist, jedoch nur möglich, wenn die Mittel für digitale Finanztransaktionen weitgehend verfügbar und kostengünstig sind. „Daher muss die Regierung politische Maßnahmen ergreifen, um Anreize für Investitionen in IKT zu schaffen und Ökosysteme zu schaffen, die den Verwaltungsaufwand vereinfachen, um die Registrierung von Unternehmen zu gewährleisten, und gleichzeitig Subventionen und Steuererleichterungen anbieten.

Um die Reichweite der Digitalisierung zu vergrößern, muss die Regierung auch dafür sorgen, dass die für die digitale Transformation erforderliche Infrastruktur aufgerüstet wird, um die digitale finanzielle Eingliederung für Unternehmen attraktiver zu machen, als wenn sie auf dem inoffiziellen Markt tätig wären“.

Er wies darauf hin, dass „Tunesien offiziell den Prozess der digitalen Transformation durchläuft, der für die Formalisierung der Wirtschaft unerlässlich ist, aber die bisherigen Bemühungen, eine bessere soziale und wirtschaftliche Integration zu gewährleisten, sind unzureichend und ohne große Wirkung“.

Die Länder, die dem bargeldlosen Zahlungsverkehr am nächsten sind.
Auf globaler Ebene führen Norwegen, Finnland und Neuseeland die Liste der Länder an, die dem „cashless“ am nächsten stehen. Es folgen Hongkong, Schweden, Dänemark, die Schweiz, das Vereinigte Königreich, Singapur und die Niederlande, wie aus einer von „Merchant Machine“ veröffentlichten Studie hervorgeht.

In den 10 Ländern, die als am ehesten bargeldlos aufgelistet wurden, liegt der Anteil der Barzahlungen mittlerweile unter 5%, wobei Schweden, Dänemark, das Vereinigte Königreich und Singapur den niedrigsten Anteil (1%) aufweisen, gefolgt von Norwegen, Finnland, Neuseeland und der Schweiz (2%) sowie Hongkong und den Niederlanden (4%).

Die Studie listet die Länder jedoch nach einem „Gesamtindex der Bargeldabhängigkeit“ auf, der auch den Prozentsatz der Personen mit Internetzugang, der Personen mit Kreditkarten, der Personen ohne Bankkonto und die Anzahl der Geldautomaten pro Person berücksichtigt.

Auf der Grundlage dieser Kombination von Faktoren hat Norwegen den niedrigsten Wert für den Bargeldabhängigkeitsindex (1,54), gefolgt von Finnland (1,87), Neuseeland (2,06), Hongkong und Schweden (2,10), Dänemark (2,15), der Schweiz (2,21), dem Vereinigten Königreich (2,22), Singapur (2,32) und den Niederlanden (2,46).

Im Gegensatz dazu zeigen die Zahlen, dass Marokko – wo 74% aller Zahlungen weiterhin bar erfolgen und 71% der Bevölkerung keine Bankverbindung haben – mit einem Gesamtwert von 6,96 das Land ist, das am meisten auf Bargeld angewiesen ist, gefolgt von Ägypten (6,71), Kenia (6,56), Nigeria (6,54), den Philippinen (6,42), Bulgarien (6,38), Peru (6,04), Vietnam (6,03), Indonesien (5,88) und Kasachstan (5,59).

In Europa sind die Länder mit dem höchsten Index der monetären Abhängigkeit nach Bulgarien Rumänien (6,51), Griechenland (6,42), die Ukraine (6,26), Portugal (5,80), die Tschechische Republik (5,51), Ungarn (5,16), die Slowakei (4,85), Polen (4,75) und Italien (4,74).

„Bulgarien ist das Land in Europa, das am stärksten von Bargeld abhängig ist, 74% aller Zahlungen in bar abwickelt und 91 Geldautomaten pro 100.000 Erwachsene anbietet, obwohl mehr als 70% der Bevölkerung ein Bankkonto haben“, so die Forscher.

„Trotz dieser starken Nutzung von Bargeld haben nur 28% der bulgarischen Bevölkerung kein Bankkonto, was bedeutet, dass viele Kontoinhaber immer noch Bargeld verwenden müssen, um zumindest einen Teil ihrer Zahlungen zu tätigen“.

Der Beitrag „Bargeldloses Zahlen – Zwischen Traum und Realität“ ist erstmals in französischer Sprache auf La Presse de Tunisie erschienen.