Tunesien: Finanzielle Situation des Staates besorgniserregend
Die rechtliche und finanzielle Situation, in der sich Tunesien drei Monate vor Ende des laufenden Haushaltsjahres befindet, lässt sich am besten mit dem Wort „atypisch“ beschreiben. Es gibt weder einen Haushalt (Finanzgesetz) für das Jahr 2022 noch ein korrigierendes oder ergänzendes Finanzgesetz zum Ende des Haushaltsjahres und das Tüpfelchen auf dem i ist, dass es derzeit kein Parlament gibt, dass darüber diskutieren und möglicherweise abstimmen könnte.
Die amtierende Ministerin für Wirtschaft, Finanzen und Investitionsförderung, Sihem Boughdiri, die nach eigenen Angaben die Situation im Auge behält, verbringt ihre Zeit jedoch mit Beteuerungen. Die Ausnahmesituation, in der sich Tunesien befindet, sei kein Hindernis für die Umsetzung der Kooperationsprogramme, einschließlich der Ausarbeitung des ergänzenden Haushalts für das Jahr 2021 und des Staatshaushalts für das nächste Jahr, sagte sie.
Kaum zur Ruhe gekommen, befasst sich der Präsident der Republik mit Themen, die die Tunesier noch als vorrangig betrachten, wie die Ernennung eines Premierministers und die Bildung eines Ministerteams, dass die Fülle der Probleme, die sich im Laufe der Tage oder Stunden auftürmen, mit hoher Geschwindigkeit in Angriff nimmt. Zumal die Staatskassen fast leer sind und Kreditgeber mit der Lupe gesucht werden müssen.
Und der einzige, der Tunesien zu Hilfe kommen kann, der Internationale Währungsfonds, der allerdings nicht ordnungsgemäß angefragt worden zu sein scheint, d.h. von einer Regierung, die ebenso ordnungsgemäß konstituiert, bevollmächtigt und beauftragt ist, ein für die öffentlichen Finanzen lebenswichtiges Abkommen auszuhandeln.
Verzweifelte Suche nach Kreditgebern
Für viele Tunesier ist der Mangel an Klarheit zunehmend beunruhigend, da ihr Land mit wirtschaftlichen Problemen kämpft, die durch die COVID-Pandemie noch verschärft werden, so Bloomberg. Die Bemühungen um ein neues IWF-Programm, das als wesentlich für die Gewinnung von Investorenvertrauen angesehen wird, stehen im Vordergrund. Während die wirtschaftliche und sicherheitspolitische Lage weiterhin fragil und hoffnungslos ist, könnten die hohen Lebenshaltungskosten und der Mangel an Möglichkeiten die sozialen Unruhen verstärken, fügt IPS (International Politics and Society) hinzu.
„Es liege im Interesse von Saied, einen Wirtschaftswissenschaftler an die Spitze der Regierung zu stellen und mit dem IWF zu verhandeln. Zusammen mit anderen internationalen Gläubigern hält dieser fast 50% der tunesischen Auslandsschulden und damit die tunesische Wirtschaft in den Klauen“.
Ohne ein neues Programm mit dem IWF wäre es für den tunesischen Staat schwierig, das Jahr 2021 abzuschließen und notwendige finazielle Mittel für den Haushalt 2022 aufzubringen, so die Universitätsprofessorin Fatma Marrakchi Charfi, die in einem Interview mit TAP die finanzielle Lage des Landes analysierte. Sie erinnert daran, dass die frühere Regierung eine Haushaltsergänzung versprochen hatte, um zumindest die grundlegenden Annahmen zu korrigieren und über mögliche Finanzierungsquellen zu informieren, doch dieses Gesetz hat bis heute nicht das Licht der Welt erblickt.
Der Haushalt 2022 sei noch nicht ausgearbeitet, auch wenn die Dienststellen des Finanzministeriums zweifellos daran arbeiten, ohne das man viel darüber weiß. Es werde mit Sicherheit durch eine Reihe von nahezu nicht reduzierbaren Ausgaben (Gehälter, Transfers und staatliche Interventionen, Verwaltungsausgaben, Zahlung des Schuldendienstes usw.) und sehr unsicheren, wenn nicht gar nicht vorhandenen Ressourcen gekennzeichnet sein. Ohne ein Programm mit dem IWF würden dieser und andere Geber Tunesien keine finanzielle Hilfe gewähren, und die steuerlichen und nichtsteuerlichen Mittel reichen nicht aus, um die Haushaltsausgaben zu decken, meint sie.
Einigung mit dem IWF unerlässlich
Ausgehend vom Stand der Ausführung des Staatshaushalts (Ende Juni 2021) bräuchte der Staat in den letzten vier Monaten des Jahres 2021 rund 19,1 Milliarden Dinar, wobei nur etwa 9,6 Milliarden Dinar an Steuereinnahmen eingenommen werden könnten. Die nichtsteuerlichen Einnahmen seien minimal, der tunesische Staat bräuchte etwa 9,5 Mrd. Dinar, wenn alles gleich bleibt. Es liege auf der Hand, dass die Aufnahme von Krediten auf den internationalen Finanzmärkten ohne ein Programm mit dem IWF sehr schwierig, wenn nicht fast unmöglich ist, sagt Fatma Marrakchi Charfi.
Was die finanzielle Verschuldung anbelange, so sei diese recht hoch, stellt sie fest und erinnert daran, dass die letzten beiden großen Fälligkeiten von Auslandskrediten im Juli und August (1 Million Dollar) durch die Ausgabe kurzfristiger Staatsanleihen und gleichgestellter Anleihen (BTA) sowie einen Währungstausch (Anzapfen der Währungsreserve) beglichen worden seien. Die mangelnde Bereitschaft der Banken, langfristige Schuldverschreibungen auszugeben, hat dazu geführt, dass der Staat bei den Banken kurzfristige Kredite mit einer Laufzeit von drei Monaten zu einem Zinssatz von 6,52 % aufgenommen habe, um einen Kredit mit einer Laufzeit von sieben Jahren und einem Zinssatz von 2,5 % zu finanzieren.
In der Tat ist der Anleihen-Markt zunehmend gesättigt und kann keine neuen Emissionen zu vernünftigen Preisen aufnehmen. In diesem Sinne teilte das Schatzamt mit, dass die beiden Anfang September nacheinander eingeleiteten Ausschreibungen erfolglos waren, weil die vom Markt geforderte Vergütung sehr hoch war.
Ein drittes Angebot wurde erst am 14. September abgegeben, um 120 Mio. Dinar zu beschaffen, aber das Schatzamt begnügte sich damit, die Hälfte des geforderten Betrags (60 Mio DT) zu beschaffen, wobei die Anleihen eine Laufzeit bis Dezember 2028 und März 2033 haben, um einen Aufwärtsdruck auf die Kurse zu vermeiden.
Titelbild: Illustrationsfoto
Quelle: African Manager