Zwei Millionen Tunesier sind Analphabeten: Eine soziale Zeitbombe
Zusammenbruch der gesellschaftlichen Werte, Schulabbruch, ein mangelhaftes Bildungssystem, das Fehlen einer nationalen Strategie und anderes mehr – das sind die Ursachen, aber auch die Folgen, die eine alarmierende Zahl erklären könnten, die vor kurzem bekannt wurde. Die allgemeine Analphabetenrate in Tunesien wird auf etwa 17,7% geschätzt, was etwa zwei Millionen Analphabeten entspricht. Dies bestätigte zumindest der Minister für soziale Angelegenheiten, Malek Zahi, bei einer Zeremonie zur Feier des Arabischen Tages der Alphabetisierung.
In einem Land, welches dank der Vision des ehemaligen Präsidenten Bourguiba seiner Bevölkerung seit mehreren Jahrzehnten eine allgemeine Schulpflicht auferlegt hat, finden wir uns heute leider mit einer traurigen Realität konfrontiert, die Bände über den Zusammenbruch des tunesischen Bildungssystems spricht, eine Reform, nationale Maßnahmen sowie kurz- und langfristige Strategien sind unverzichtbar geworden.
Doch auch wenn die Rate der Analphabeten in Tunesien weiterhin erheblich ist, ist sie von 18,1% im Jahr 2018 auf derzeit 17,7% gesunken. Laut Zahlen des Nationalen Instituts für Statistik (INS) lag die Analphabetenrate bei Frauen und Männern im kommunalen Umfeld bei 12,9%, während sie im nicht-kommunalen Umfeld auf 29,5% anstieg. Die Analphabetenrate nimmt mit sinkendem Durchschnittsalter ab und erreicht in der Gruppe der 10- bis 14-Jährigen 2,8%, während sie bei den älteren Menschen (80 Jahre und älter) 79,8% erreicht.
Laut derselben Quelle ist die Region Jendouba mit einer Analphabetenrate von 31,6% führend, gefolgt von Kasserine mit 30,2% und Siliana mit 29,7%. Ben Arous hingegen ist die Region mit der niedrigsten Analphabetenrate von 9,7%, gefolgt von Tunis mit 10,1% und Monastir mit 10,5%.
Laut Uneso ist „ein Analphabet eine Person, die nicht in der Lage ist, eine kurze und einfache Darstellung von Fakten des täglichen Lebens zu lesen und zu schreiben und zu verstehen“. Die Alphabetisierung unterscheidet sich somit vom Illetrismus (funktionaler Analphabetismus), bei dem es sich um die Situation derjenigen handelt, denen das Lesen und Schreiben beigebracht wurde, die es aber nicht beherrschen. Funktionale Analphabeten sind Menschen, die zwar Buchstaben erkennen und durchaus in der Lage sind, ihren Namen und einige wenige Wörter zu schreiben, die jedoch den Sinn eines etwas längeren Textes entweder gar nicht oder nicht schnell und mühelos genug verstehen, um praktischen Nutzen davon zu haben. Eine feste Grenze zwischen „verstehen“ und „nicht verstehen“ existiert dabei nicht.
Die Ursachen
In Tunesien stellt dieses Phänomen zwar eine Quelle der Besorgnis dar, insbesondere für ältere Menschen, da sie auf ihre Umgebung angewiesen sein werden, doch das Problem des Analphabetismus bei einer Person lässt sich durch verschiedene Ursachen erklären, die in der Regel miteinander verbunden sind. Gemeinsam schaffen sie eine Reihe von Hindernissen, die für den Betroffenen oft unüberwindbar sind und seine Alphabetisierung und seine Kommunikation mit der Außenwelt beeinträchtigen.
Daher ist das Problem vor allem auf Gründe zurückzuführen, die mit einer geringen Schulbildung zusammenhängen, insbesondere in ländlichen Gebieten. Wer beispielsweise in einem benachteiligten Umfeld als Kind von Eltern mit geringer Schulbildung geboren wird, hat ein höheres Risiko, Analphabet zu werden oder große Lernschwierigkeiten zu haben – Soziologen nennen dies die intergenerationelle Weitergabe des Analphabetismus.
Schwierige Lebensbedingungen und Armut, Schulversagen und Schulabbruch, da viele die Sekundarstufe nicht abgeschlossen haben, Lernstörungen wie Legasthenie und der schwierige Zugang zu Bildungseinrichtungen sind allesamt Faktoren, die dieses Phänomen, dessen Ausmaß sich langfristig messen lässt, noch verstärken könnten.
Jedes Jahr 100.000 Schulabbrecher
Das besorgniserregende Phänomen des Schulabbruchs in unserem Land verdeutlicht dies. Jedes Jahr brechen mehr als 100.000 Schüler die Schule ab. Nur 60-70% der Schulabbrecher nehmen an einer weiterführenden Bildungs- oder Berufsausbildung teil, während die restlichen 30.000 Jugendlichen keine „zweite Chance“ erhalten. Dies ist eine soziale Zeitbombe, sind Fachleute und Soziologen alarmiert, zumal die Schulen der zweiten Chance in Tunesien nur ein noch im Entstehen begriffenes Konzept sind und die Situation keinesfalls beheben können.
Zwar ist es heute dringend erforderlich, die öffentliche Schule zu reformieren, was im Übrigen der Präsident der Republik, Kais Saïed, zu einer Priorität gemacht hat, um unseren Kindern und Jugendlichen eine bessere Bildung bieten zu können, doch ist es auch von größter Wichtigkeit, sich um ältere Analphabeten zu kümmern. Für den Sozialminister hat sich der Staat verpflichtet, bis 2030 ein Bildungs- und Lernsystem aufzubauen, das „lebenslang, gerecht und für alle verfügbar“ ist.
Illektronismus oder digitaler Analphabetismus
Heutzutage muss man feststellen, dass der Analphabetismus auch neue Formen annimmt. Man spricht heute von digitalem Analphabetismus oder auch Illektronismus, der sich durch das Phänomen des vollständigen Verlusts oder einfach der Lücken in Bezug auf die grundlegenden Kenntnisse der digitalen Sphäre (Internetnutzung, Textverarbeitung usw.) definieren lässt.
Mit der nationalen E-Konsultation, die am 15. Januar beginnen soll, stellt sich dieses Problem tatsächlich. Während Zahlen und Statistiken zu diesem Phänomen in Tunesien noch fehlen, wird das Problem durch die digitale Infrastruktur, die große regionale Ungleichheiten markiert, noch verschärft. Da die meisten digitalen Inhalte in schriftlicher Form vorliegen, ist es für diejenigen, die nicht über die Grundkenntnisse des Lesens, Schreibens oder Rechnens verfügen, schwierig, sie zu verarbeiten. Dies kann insbesondere bei älteren Menschen zu einer Zurückhaltung gegenüber der digitalen Kultur führen.
Titelbild: Symbolbild (Pixabay)
Quelle: La Presse