Politik

Ben Ali: „Ich habe niemals einen Schießbefehl auf Demonstranten gegeben“

Interview mit Ex-Präsident Ben Ali in deutscher Übersetzung, aufgezeichnet im Januar 2013. Übersetzt von David Hume

Tunisie Secret: Herr Präsident, unter welchen Umständen und aus welchen Gründen haben Sie Tunesien am 14. Januar 2011 verlassen?

Ben Ali: Man hat mich überzeugt, dass das Leben meiner Familie in Gefahr war und dass man nicht mehr in der Lage war, sogar meine eigene Sicherheit zu gewährleisten. Ich habe so gehandelt, wie es jeder Vater einer Familie in einer ähnlichen Situation tun würde. Ich hatte gar nicht die Absicht, Tunesien zu verlassen, trotz allem, was man mir über die Gefahr meines Verbleibens erzählte. Meine Pflicht bestand darin zu bleiben und den verschiedenen sich abspielenden Komplotten zu begegnen. Das hat mich sehr an die Ereignisse von Januar 1984 erinnert. Letztendlich bin ich ohne meine Medikamente und ohne meine Brille ins Flugzeug eingestiegen, mit dem Gedanken, danach sofort zurückzukommen. Ich sollte erwähnen, dass ich nie die Absicht hatte, nach Frankreich zu gehen, im Gegensatz zu dem, was gesagt wurde. Ich schwankte zwischen zwei brüderlichen Ländern, dem Königreich Saudi-Arabien und Algerien. Schließlich wurde ich in das Land des Propheten, Friede sei mit ihm, geführt.
Eine Stunde nach unserer Ankunft habe ich mich von meiner Familie verabschiedet, die ich von einer guten Eskorte bewacht gehen ließ und bin im Flughafen geblieben. Es war spät in der Nacht und ich habe darauf gewartet, dass das Flugzeug mit Kerosin aufgefüllt wird und dass sich die fünf Personen von der Crew ein bisschen erholen damit wir einsteigen und nach Tunis zurückfliegen konnten. Ohne mich darüber in Kenntnis zu setzen, während ich in der VIP-Lounge wartete, hob das Flugzeug ohne mich – kaum zwei Stunden nach unserer Ankunft – ab.

Tunisie Secret: Sie haben in Ihrer Rede an die Nation bestätigt, niemals den Befehl gegeben zu haben, mit scharfer Munition auf die Protestierenden zu schießen. Warum hat es dann so viele Tote gegeben?

Ben Ali: Dem Innenministerium und dem Ministerium für Nationale Verteidigung wurde kein Befehl, sei er schriftlich oder mündlich, zur Anwendung von Waffen mit scharfer Munition erteilt. Sogar die Verwendung von Tränengas wurde sehr stark eingeschränkt. Seit dem ersten Januar 2011 wussten wir, dass Mietwagen und Taxis den Norden und Süden des Landes durchstreiften und dass Jugendliche mit Geld, Drogen in Tablettenform und mit Fertigungsteilen von Molotowcocktails versorgt wurden. Aber ab dem 8. Januar, nachdem mir über Angriffe terroristischer Elemente auf einige Polizeistationen und Posten der Guarde Nationale berichtet worden ist, bei welchen es Tote und Verletzte gegeben hat, wurde die Anweisung an alle Sicherheitskräfte erteilt, ihre Waffen nur im Falle der legitimen Selbstverteidigung anzuwenden.
An dem Ort, an dem ich mich im Moment befinde, schwöre ich vor Gott und dem tunesischen Volk, dass ich nie den geringsten Befehl gegeben habe, auf die Demonstranten zu schießen. Ich bleibe davon überzeugt, dass meine Minister des Inneren und der Verteidigung, dessen, wofür man sie anklagt, unschuldig sind. Auch wenn ich persönlich keinen Befehl gegeben habe, übernehme ich als Chef des Staates meine Verantwortungen. Ich bin bereit, vor einem unabhängigen Gericht auf alle gegen mich erhobenen Anklagen zu antworten. In diesem Moment werden dann meine Landsleute die ganze Wahrheit wissen. Sie werden wissen, wer die Protestierenden umgebracht hat und unter wessen Befehl. Ich hatte großen Schmerz wegen all diesen Jugendlichen, die unnötig gestorben sind und ich leide immer noch darunter, als wären sie meine eigenen Kinder.

Tunisie Secret: Als man Ihre Residenz in Sidi Dhrif durchsucht hat, hat man viel Geld in Dinare und in Devisen gefunden. Gab es so viel Geld und waren Sie dessen persönlicher Besitzer?

Ben Ali: Trotz ihrer Grausamkeit hat mir diese Geschichte weniger weh getan, als die Jugendlichen, die umsonst gestorben sind und die wie meine eigenen Kinder waren. Diese Geschichte war eine völlig gesetzwidrige Verletzung des Wohnsitzes. Man hat nicht nur die Zentralbank gefunden, die „zu mir gezogen“ sei, sondern auch Waffen, Drogen und was weiß ich noch. Dieser Koffer diente nicht der Sammlung von Geld und Juwelen. Er war aber tatsächlich voll mit anderen Dingen. Ich hatte dort alle als „secret defence“ klassifizierte Akten und auch viele andere persönliche Akten, persönliche Briefe, alte Dokumente von meiner Familie, die bis zum 19ten Jahrhundert reichen, ein Andenken an meine Mutter, das mir besonders am Herzen lag… all das wurde genommen und mit Papiergeld aus mir unbekannter Herkunft ausgetauscht. Das tatsächlich vorhandene Geld beträgt 10% von dem, was man dem tunesischen Volk gezeigt hat. Das war der Geheimfonds des Präsidenten der Republik, wie es bei allen Staatchefs und sogar bei Ministern in einigen westlichen Ländern üblich ist. Aber gut, ich verstehe warum sie all das getan haben.

Tunisie Secret: Einige behaupten, dass Sie in der Nacht des 14.Januar 2011 die Absicht hatten, dem tunesischen Volk extrem wichtige enthüllende Informationen mitzuteilen und dass Sie dies sogar mit Ihrer Generalsuniform bekleidet tun wollten. Wenn dies wahr ist, was wollten Sie den Tunesiern sagen?

Ben Ali: Ja, das ist absolut wahr. Meine Rede ist am 14. Januar am Morgen verfasst worden. Ich wollte die Rede um 20 Uhr halten. Die sechs Seiten sind über meinem Büro in Carthage geblieben, als ich meine Familie zum Flughafen begleitete. Jemand hat mir empfohlen, meine Uniform des Generals der nationalen Armee zu tragen. Nein, ich wollte das nicht tun. Im Gegenteil habe ich die Entscheidung getroffen, meinem Volk zu sagen, dass ich mein ganzes Leben gedient habe, dass das Land in Gefahr ist, dass terroristische Gruppierungen aus Europa gekommen sind, von denen wir einige festgenommen haben, dass latente lauernde islamistische Zellen aufgewacht sind, dass wir von einem brüderlichen arabischen Staat und einem freundlichen westlichen Staat betrogen worden sind. Ich wollte auch die Gründung einer Regierung einer neuen nationalen Union ankündigen, mit Kemal Morjan als Ministerpräsident, mit der Teilnahme von RCD, MDS, FDP, Ettajdid, dem demokratischen Forum für Arbeit und Freiheit, zwei unabhängigen Intellektuellen und einer islamischen Persönlichkeit aus dem inneren des Landes. Diese Regierung sollte ein Jahr herrschen und auf die legislativen und präsidentiellen Wahlen vorbereiten und mein Sanierungsprogramm in 21 Punkten ausführen, von welchen ich in meiner Rede vom 13. Januar gesprochen habe. Ich wollte schließlich ankündigen, dass ich mich nicht als Kandidat aufstellen lassen werde, und dass ich mich nach den Wahlen definitiv aus dem politischen Leben zurückziehen werde.

Tunisie Secret: Wie beurteilen Sie die Situation Tunesiens zwei Jahre danach und was halten Sie von der jetzigen Regierung?

Ben Ali: Ich hoffte, dass meine Landsleute den zivilen Frieden und die Brüderlichkeit wieder finden und dass die neuen Regenten auf das bauen, was schon seit der Unabhängigkeit aufgebaut wurde. Es liegt nicht an mir, eine Bilanz von meinen 23 Jahren an der Macht zu ziehen, sondern an den Historikern. Ich sage, dass meine Politik nicht perfekt war, aber dass sie in sehr gute sozio-ökonomische, strukturelle und erzieherische Ergebnisse gemündet hat, die von vollständiger Entwicklung geprägt sind. Mit kompetenten Ministern, die sich ihrem Land gewidmet haben und mit sehr bescheidenen Energieressourcen haben wir große Herausforderungen angenommen. Als ich 1987 Präsident geworden war – die Alten wissen das – war die Wirtschaft im Kollaps und die Sicherheit in Gefahr. All die aktiven Kräfte der Nation haben an der Sanierung des Landes teilgenommen, auch die Opposition, die Gewerkschaften und die patriotischen Eliten. Nach meinem Abgang hoffte ich, dass sich all diese aktiven Kräfte wieder an die Arbeit machen, indem sie das Erreichte fortsetzen und das Fehlende ergänzen. Aber leider haben einige einen anderen Weg eingeschlagen, um offene Rechnungen zu begleichen, um sich zu rächen und um die Macht auszunutzen. Anstatt Respekt zu zeigen und die Bedürfnisse der Armen und der Arbeitslosen zu befriedigen, haben sie ihre Zeit verschwendet und all die wirtschaftlichen Reserven ausgeschöpft, die meine letzte Regierung hinterlassen hat. Sie haben sie für demagogische und unnötige Initiativen aufgebraucht. Die Inflation, die Arbeitslosigkeit, die Armut und die Auslandsverschuldung haben sich in 2 Jahren vervierfacht. Ich empfinde wirklich großen Schmerz, wenn ich an mein Land und mein Volk denke. Ich wünsche vom ganzen Herzen, dass diese Regierung die Ernsthaftigkeit der Lage erkennen wird, dass sie das reparieren wird und dass sie Erfolg haben wird.

Tunisie Secret: Es gibt viele Gerüchte über Sie seitdem Sie in Saudi-Arabien wohnen. Wie leben Sie im Exil?

Ben Ali: Auch wenn meine Heimat mir sehr fehlt, fühle ich mich hier nicht im Exil, in diesem Heiligen Land neben meinen saudischen Brüdern, die die Brüderlichkeit und die arabische Gastfreundschaft und die Güte der Muslime repräsentieren. Diejenigen, die in die Geschichte dieses Landes eingeweiht sind, wissen, dass Saudi-Arabien seit dem Ringen um die Unabhängigkeit immer auf der Seite Tunesiens gestanden hat. Die Gerüchte – davon gibt´s so viele – was nützt es da zu antworten. Schwatzen und Plaudern hat nie zu mir gepasst. Ich führe ein normales Leben als Vater und als Großvater. Ich verbringe meine Tage zwischen dem Computer, dem TV, der Lektüre und dem Gebet. Ich danke Gott, mir fehlt nichts, außer meiner Heimat, der ich gedient habe und dieses Volk, das ich so sehr geliebt habe und dessen Zukunft mir Sorgen bereitet. Ich empfinde diese Entfernung als eine Prüfung Gottes, der denjenigen in seinem Glauben prüft, den er liebt.

Tunisie Secret: Bereuen Sie einige Sachen, wenn Sie auf die 23 Jahre zurückblicken, die Sie an der Führung Tunesiens verbracht haben? Wie zum Beispiel die Verstöße gegen Menschenrechte?

Ben Ali: Alle Menschen können Fehler begehen. Regieren, das heißt Entscheidungen zu treffen. Ich habe Entscheidungen getroffen, für die ich die vollständige Verantwortung übernehme. 1987 habe ich mich entschlossen, dem Führer Bourguiba zu folgen, indem ich Alle zu versöhnen versuchte: die Bourguibaner, die Youssefisten, die Islamisten, die Kommunisten, die Sozialisten und die Liberalen. Diese Versöhnung hat sich durch den nationalen Vertrag verwirklicht, der alle Richtungen zu einem modernistischen Projekt vereint hat.
Es haben sich Verstöße gegen Menschenrechte ergeben, weil man übereifrig war, aber das ist nichts im Vergleich mit anderen Ländern aus der Region, aus Afrika, aus Lateinamerika oder aus Osteuropa. Ich habe nicht reagiert, weil sie schon drei Mal versuchten mich zu ermorden, sondern, weil die Stabilität des Staates und der zivile Frieden gefährdet waren. Nichtsdestotrotz habe ich sie 1987 vor einem unweigerlichen Todesurteil gerettet.
Ich habe den Dialog mit ihnen gesucht, trotz des Widerwillens der Linksparteien und sogar der zivilen Bevölkerung.
Ich wollte zuerst die Einigkeit, den zivilen Frieden und die wirtschaftliche Prosperität einführen und dann das Feld für den gemäßigten patriotischen Flügel der islamistischen Bewegungen allmählich öffnen.
Wer hat den Krieg gesucht?
Wer hat die Konfrontation gesucht?
Gut, lassen wir das sein.
Was ich wirklich bereue ist, nicht weiter bis in die Spitze der demokratischen Entfaltung gegangen zu sein und nicht mehr die Meinungsfreiheit gefördert zu haben. Ich habe einigen meiner Berater vertraut und ich habe den wahren Demokraten, auch aus der RCD Partei, nicht genug zugehört. Ich bereue ebenfalls, dass ich nicht ausreichend streng gegen die Korruption vorgegangen bin, auch wenn dieses Phänomen aufgeblasen wurde und nicht nur Tunesien betrifft, sondern 90% aller Länder einschließlich einiger westlichen Demokratien. Ich bereue schließlich 2009 ein fünftes Mandat angenommen zu haben.

Tunisie Secret: Was sind Ihre persönlichen Wünsche und was möchten Sie dem tunesischen Volk nach 2 Jahren des Schweigens sagen?

Ben Ali: In meine Heimat zurückzukehren, um dort den Rest meines Lebens mit meiner Familie und meinem Volk zu verbringen. Mich bei den Gräbern von alldenjenigen, die während der schmerzlichen Ereignisse von 2011 gestorben sind, auffangen lassen, bei den Gräbern von meinen Eltern und meinen Vorfahren und bei den Mausoleen von Sidi Abdelghani, von Sidi Mezri et und von Habib Bourguiba.
Ich denke auch an die Lebenden, die seit 2 Jahren zu Unrecht im Knast sitzen. Dem tunesischen Volk sage ich nur eins: Achtet gut auf die Souveränität eures Landes die mit dem Preis von dem Blut und den Aufopferungen vieler Generationen erworben worden ist. Möge Gott der Allmächtige Tunesien verteidigen.

Quelle: Tunisie Secret