Erfahrungsaustausch: Juristische Mechanismen zur Bekämpfung von Corona
Am 20. Mai 2020 bot die IRZ in Zusammenarbeit mit dem tunesischen Centre d’Études Juridiques et Judiciaires (CEJJ) einen ersten Erfahrungsaustausch zur aktuellen rechtspolitischen Lage vor dem Hintergrund der Corona-Pandemie an. Die Online-Veranstaltung fand im Rahmen des derzeitigen Arbeitsprogramms zwischen dem Bundesministerium der Justiz und für Verbraucherschutz und dem tunesischen Justizministerium statt. Im Zentrum des Gedankenaustauschs standen die Beschränkungen von Grund- und Verfassungsrechten, die dazu beitragen sollen, die Ausbreitung von Covid-19 zu beschränken, und deren Verhältnismäßigkeit. Die Teilnehmerinnen und Teilnehmer diskutierten auch die Auswirkungen der Maßnahmen auf den Alltag und die Justiz.
Folgende Expertinnen und Experten nahmen an der Online-Veranstaltung teil:
- Prof. Dr. Michaela Wittinger, Professorin für Verfassungs-, Staats-, Europa-, und Völkerrecht, Hochschule des Bundes für Öffentliche Verwaltung, Mannheim
- Stefan Schlotter, Staatsanwalt, Staatsanwaltschaft Frankfurt am Main
- Samar Jaiidi, Wissenschaftliche Mitarbeiterin des CEJJ und Richterin zu verfassungsrechtlichen Themen
- Iyadh Chaouachi, Gruppenleiter Verwaltungsrecht am CEJJ und Richter
- Yassine Ammar, Wissenschaftlicher Mitarbeiter am CEJJ in Strafsachen und Richter
Da Tunesien mit seiner erst seit 2014 verabschiedeten Verfassung eine junge Demokratie ist und bisher noch kein funktional arbeitendes Verfassungsgericht hat, wiegen die wegen der Corona-Pandemie per Dekret durch die Exekutive erlassenen Gesetze und Verordnungen besonders schwer. Sie können die noch nicht gefestigte parlamentarische Demokratie bedrohen. Vor allem weil es noch kein aktives Verfassungsgericht gibt, das Gesetze oder staatliches Handeln für verfassungswidrig erklären kann, ist ein maßvoller, verhältnismäßiger Umgang mit Beschränkungen innerhalb dieses rechtspolitischen Vakuums nötig.
Der Austausch zwischen Expertinnen und Experten verschiedener Rechtskulturen und Erfahrungen fördert einen kritischen und engagierten Umgang zum Erhalt und Ausbau von Rechtsstaatlichkeit. Vor diesem Hintergrund befasste sich der Gedankenaustausch mit dem Verhältnismäßigkeitsgrundsatz und den juristischen Maßnahmen, die im Rahmen der Corona-Pandemie von Staaten verhängt wurden. Dabei ging es sowohl um die Einschränkungen der Freiheiten von Bürgerinnen und Bürgern als auch um die Auswirkungen der Maßnahmen auf das Justizsystem.
Die Teilnehmerinnen und Teilnehmer beschäftigten sich bei dem Erfahrungsaustausch mit den Verläufen der Pandemie in Tunesien und Deutschland und den damit einhergehenden Einschränkungen und erlassenen Verordnungen. Sie diskutierten die Auswirkungen von Verstößen auf die Strafpolitik. Dabei stellten Sie einen Trend zur Kriminalisierung der Bürgerinnen und Bürger sowie eine Verschiebung vom Ordnungs- in Richtung Strafrecht fest. Zur Sprache kam auch die in beiden Ländern nach wie vor unzureichende Digitalisierung im Justizsystem. Diese wirke sich negativ auf einen zügigen Zugang zu Recht und Rechtsbehelf aus, waren sich die Teilnehmerinnen und Teilnehmer einig. Sie plädierten für einen raschen Ausbau der digitalen Infrastruktur, um den elektronischen Rechtsverkehr weiterentwickeln zu können.
Es ist Ziel der IRZ, ihren Partnern in Tunesien auch kurzfristig Beratungen anzubieten, die sich wie bei diesem Online-Erfahrungsaustausch aus aktuellen rechtsstaatlichen Kontexten ergeben. Darüber hinaus wird die IRZ die seit 2011 in Tunesien geleistete rechtsstaatliche Unterstützung weiter verstetigen.
Quelle & Grafik: IRZ